STEFANIE HANSEN

 

Für immer und ein Jahr

 

ROMAN

 

 

Leseprobe 

 


 

 

 

 

 

Die geliebt werden, können nicht sterben,

denn Liebe bedeutet Unsterblichkeit.

Emily Dickinson


 

 

 

 

EIN KALENDER FÜR DIE EWIGKEIT

Solange Jan denken konnte, hatte das Aufschlagen des Geburtstagskalenders zu Kayas Sonntagmorgen-Ritualen gehört. Meist tat sie es noch vor dem Frühstück, um nachzusehen,

wem sie in den kommenden Tagen gratulieren musste, neben sich eine Tasse frisch gebrühten Kaffees. An diesem Sonntagmorgen jedoch trank sie keinen Kaffee. Sie vertrug nur noch Wasser und milden Kräutertee. Der Krebs hatte sich in ihrer Lunge ausgebreitet, und sie atmete

mühevoll. Ein Sauerstoffgerät neben ihrem Bett verhalf ihr manchmal zu ein paar friedlichen Stunden in der Nacht. Das gleichmäßige Brodeln und Zischen des Geräts beruhigte sie, wenn Jan es nicht mehr konnte.

Jan hatte ihr ins Wohnzimmer hinuntergeholfen, wo sie auf dem Sofa saß, ihren Geburtstagskalender im Schoß. Es war kein gewöhnlicher Kalender. Kaya hatte ihn selbst gestaltet, zu einer Zeit, als sie einander noch nicht gekannt hatten. Sie war eine leidenschaftliche Notizbuchsammlerin und liebte es, die Einbände mit gemustertem Papier oder Fotos zu verzieren. In ihren Notizbüchern hielt sie schöne Erinnerungen fest, klebte Fotos ein, bewahrte Eintrittskarten zu Konzerten und Museen auf – ihr Leben auf unzähligen Seiten Papier eingefangen. Die Notizbücher lagen im Schlafzimmer, in Kayas Nachtschrank, nur den Geburtstagskalender bewahrte sie in der Küche im Regal neben den Kochbüchern auf, genau auf Blickhöhe. Es war ein besonders schönes großformatiges Exemplar mit Ledereinband. Alle Menschen, die in Kayas Leben je eine Rolle gespielt hatten, waren in diesem Kalender mit Geburtsdatum und manchmal auch mit einem Foto verewigt. Der Ledereinband hatte einige Fettflecken abbekommen, das Papier war fest und am Rand ein wenig gewellt. Die vielen Jahre seiner Existenz steckten darin wie die Feuchtigkeit in den Mauern eines alten Weinkellers.

Er war nach Monaten und Tagen gegliedert, kleine farbige Laschen markierten das jeweils erste Blatt eines Monats, und jedem Tag gehörte eine ganze Seite. Großzügig wie Kaya war, hatte sie allen Monaten einunddreißig Tage zugewiesen, sogar dem Februar. Wochentage gab es keine,

dafür aber viel Platz, um sie mit zukünftigen Bekanntschaften zu füllen. So war Kayas Kalender für die Ewigkeit gemacht, ein Grund vielleicht, warum er in den Händen seiner zierlichen Besitzerin immer schon so schwer und mächtig gewirkt hatte. Und heute ganz besonders.

Sie sah grau und zerbrechlich aus, beinah zu schwach zum Sitzen. Auf jeden Fall zu schwach, um zu telefonieren.

»Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen?«, fragte Jan.

»Gleich«, sagte sie und blätterte im Kalender. »Ich will nur … « Sie stöhnte leise. »Ich habe total vergessen, dass Aicha morgen Geburtstag hat.«

Aicha war Kayas Patenkind, eine inzwischen zwanzigjährige junge Frau aus Burkina Faso, die von Kaya seit vielen Jahren unterstützt wurde. Dank Kayas monatlicher Zuwendungen hatte sie zur Schule gehen und einen Abschluss machen können – den besten ihres Jahrgangs. So gut war er gewesen, dass sie ein Stipendium bekommen hatte und jetzt in London Medizin studierte. Kaya und Jan hatten sie regelmäßig besucht – erst in ihrem Heimatdorf, dann in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, und vergangenes Jahr sogar noch in London. In diesem Jahr hatte es keinen Besuch mehr gegeben.

Kaya sah zu Jan auf, ihre Augen riesig im schwindenden Gesicht. »Ich schicke ihr doch immer etwas. Das kommt jetzt nicht mehr rechtzeitig an. Wieso habe ich das vergessen?«

»Weil es nicht wichtig ist«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. »Du hast ihr ein Leben geschenkt. Das ist unendlich viel mehr wert als jedes Geburtstagspäckchen.«

»Es ist wichtig. Jeder dieser Menschen ist wichtig.« Sie legte die Hände auf ihren Kalender, als müsste sie ihn vor seiner Geringachtung schützen.

»Ja, die Menschen sind wichtig, aber nicht, dass du ihnen pünktlich etwas zum Geburtstag schenkst.«

»Das gehört doch zusammen. Es zeigt ihnen, dass sie jemandem etwas bedeuten. Und was kann wichtiger sein als das?«

»Deine Gesundheit. Du!«

»Diese Menschen werden da sein, auch wenn ich es nicht mehr bin.«

Jan zog Kaya an sich und hielt sie lange fest, wie um diesem Nicht-mehr keinen Raum zwischen ihnen zu geben.

Der Anruf am nächsten Tag bei Aicha war der letzte, für den Kaya noch Kraft gefunden hatte.

Das Gespräch schwächte sie so sehr, dass sie danach vor Erschöpfung einschlief, den Kalender auf dem Bauch, das Handy in der Hand. Als Jan beides nehmen und beiseitelegen wollte, öffnete sie die Augen. »Bleib. Setz dich zu mir.« In ihrem Blick war Unruhe.

Er dachte, sie würde wieder einschlafen, beruhigt durch seine Nähe. Doch sie schob sich in den Kissen ein Stück höher und griff nach seiner Hand.

»Du musst etwas für mich tun.«

»Alles, was du willst.«

»Ich kann es nicht mehr. Es ist zu anstrengend geworden.«

Er war alarmiert. »Was meinst du?«

»Telefonieren. Ich kann nicht mehr telefonieren. Mir fehlt der Atem.«

»Ist doch klar.« Nichts hätte seine Hilflosigkeit deutlicher zum Ausdruck bringen können als diese Worte.

»Wenn ich nicht mehr bin … «

Er wollte das nicht hören. »Ruh dich jetzt aus«, unterbrach er sie. »Wir sprechen später weiter.«

»Nein. Jetzt.« Ihre körperlichen Kräfte mochten stündlich schwinden, nicht jedoch ihre Dickköpfigkeit.

»Ich möchte, dass du sie anrufst. Alle. Ein Jahr lang.«

»Alle? Wen alle?«

»Alle, die in meinem Kalender stehen.« Sie strich ein paarmal mit der Hand über den Einband und lächelte wie eine müde Tänzerin, die zum letzten Mal vor ihr Publikum tritt, um sich nach vielen gelungenen Vorstellungen endgültig zu verabschieden. Dann legte sie ihm das Buch in

den Schoß.

»Keine E-Mails, kein WhatsApp. Telefon. Ein Jahr lang.«

»Du willst, dass ich all diese Leute … ?« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, ein leises Stöhnen entwich ihm aber doch. Er konnte nicht telefonieren. Er hasste es zu telefonieren! Mit einem menschlichen Gegenüber zu reden, war schon schwer genug. Er fand ohnehin nie die

richtigen Worte, wenn mehr von ihm verlangt wurde als reine Faktenübermittlung.

»Du hast gesagt, du tust alles für mich.«

»Ja!« Aber viele von diesen Leuten kenne ich doch gar nicht.

Kaya konnte seine Gedanken lesen. Seit sie krank war, besser denn je. »Sie kennen dich. Und sie bedeuten mir etwas, sonst stünden sie nicht da drin. Reicht das nicht?«

»Ach, Kaya, ich … «

»Bitte.«

Ihre Stimme schien an dem Wort zu zerbrechen.

Schnell sagte er: »Ja, natürlich.« Er nahm ihre Hand, küsste sie da, wo sich die Lebenslinie in der Handwurzel verlor. »Ich mache es. Versprochen.«

Dankbar schloss Kaya die Augen. Eine Weile saß er still bei ihr, dann fiel ihm noch etwas

ein. »Und warum genau ein Jahr lang?«

»Weil du dann alle einmal angerufen hast.« Wie gegen einen machtvollen Widerstand hob sie die Lider. Ihre Augen hatten die Farbe des Himmels an einem leicht verhangenen Sommertag und so, wie sie ihn in diesem Moment ansah, glaubte er, über die Grenzen des Himmels hinaus in die Unendlichkeit blicken zu können.

»Danach entscheidest du selbst, was du daraus machst«, flüsterte sie.


 

OKTOBER

Jan hätte nie geglaubt, dass er sich je wünschen könnte, eine Aufgabe unvollendet zu lassen. Aber er würde zu Ende bringen, was zu Ende gebracht werden musste. Das war er Kaya schuldig.

Am Morgen war eine neue Holzlieferung gekommen. Überwiegend Kiefer, und auch die längst überfällige Charge afrikanischen Ebenholzes war dabei.

Der Geruch frisch geschlagener Hölzer strich mit der warmen Nachmittagsluft durch die geöffneten Fenster in die Werkstatt. Kiefernholz hatte einen intensiven Duft, insbesondere, wenn die Sonne darauf schien und die Bodenfeuchte sich mit dem Holzaroma vermischte. Eine Planke dunkelbraunen Ebenholzes lag vor ihm. Er sägte ein winziges Stück davon ab. Den Rest konnte er vielleicht irgendwann einmal für Intarsien an einem Möbelstück verwenden. Manchmal wollten Kunden so etwas.

Das Anfertigen des Unendlichkeitssymbols, oder der liegenden Acht, wie Lina es nannte, bereitete ihm keine große Schwierigkeit. Und doch war es die größte Herausforderung seines Lebens.

Die Stelle, an der die Bögen aufeinandertrafen, sollte sehr fein gearbeitet sein. Jan wollte, dass es elegant aussah. Vorsichtig bearbeitete er das Stück Ebenholz mit der Dekupiersäge. Wenn Jan in seiner Werkstatt arbeitete, konnte er die Welt um sich herum vergessen. Zu sehen, wie ein Stück Holz unter seinen Händen zu neuem Leben erwachte, gab ihm Frieden. Auch heute.

Es dauerte nicht lange und er hielt ein filigranes Unendlichkeitszeichen in der Hand. Die Linienstruktur des Ebenholzes erzeugte eine fließende Optik. Genauso hatte er es sich vorgestellt.

Der Deckel der Urne, in den er das Zeichen einarbeiten wollte, lag schon seit Tagen bereit. Die Auswahl des Holzes für das Behältnis war ihm nicht leichtgefallen, es gab so viele schöne Hölzer. Er hatte sich schließlich für Seidenkiefer entschieden. Sie war weich, hatte damit etwas

Sanftes, und der warme weißgelbe Farbton bildete einen schönen Kontrast zu dem dunkelbraunen Ebenholz. Vor allem würde sie sich in der Erde schnell zersetzen, wenn sie

unbehandelt blieb, im Gegensatz zu der Intarsie. Ebenholz hielt ewig.

Er übertrug die Form der liegenden Acht mit einem feinen Bleistift auf den Urnendeckel, spannte ihn in die Fräse ein und begann die Oberfläche abzutragen. Anschließend stemmte er die tieferen Schichten mit dem Stechbeitel aus. Immer wieder prüfte er die Passgenauigkeit seiner Einlegearbeit, und als sie sich schließlich nahtlos in die ausgefräste Stelle einfügen ließ, schnalzte er zufrieden mit der Zunge.

Da stupste ihn plötzlich jemand an. Überrascht drehte er sich um. Es war Lina. Er hatte sie nicht hereinkommen hören, so versunken war er in sein Tun.

»Das sieht schön aus«, sagte sie und zeigte auf den Deckel mit der Intarsie.

»Finde ich auch.«

»Klebst du sie jetzt ein?« Jan nickte.

»Darf ich den Leim draufpinseln?«

Wieder nickte er, und sie gingen zum Tisch am Fenster, wo der Leimtopf stand. Er beobachtete seine zwölfjährige Tochter, die in höchster Konzentration mit vorgeschobener Zungenspitze vorsichtig den Leim in die Aussparung auf den Urnendeckel und dann auf die Unterseite der Intarsie pinselte. Gemeinsam drückten sie das Unendlichkeitssymbol fest. Es saß perfekt. Nun musste die Oberfläche nur noch geschliffen und poliert werden.

»Glaubst du, sie ist immer noch hier?«, fragte Lina und schaute zu ihm auf.

Jan sah sie eine Weile schweigend an. Dann nahm er sie in den Arm und küsste ihren Scheitel. Ihr Haar war warm und roch ein bisschen nach Wald. Vielleicht hatte sie zwischen den Hölzern gesessen, wie so oft, wenn sie Trost brauchte.

»Sicher ist sie noch hier«, sagte er. »Und wird es immer bleiben.« Das Sprechen kostete Kraft.

»Glaubst du wirklich?«

Er wünschte es sich. Aber wirklich daran glauben konnte er nicht, ebenso wenig wie er an den lieben Gott glauben konnte oder an eine Wiedergeburt.

»Solange wir an sie denken, wird sie hier sein.«

»Das ist lange.«

»Das ist für immer«, sagte Jan.

 

 

Das Festnetztelefon, das im Wohnzimmer neben dem Fenster stand, stammte aus einer Zeit, als es noch kaum Handys gab und schnurloses Telefonieren als technische Errungenschaft galt. Es war weiß mit einem zerkratzten Display, eines dieser Modelle, das man durchs Haus tragen konnte, wenn man, wie Kaya es oft gemacht hatte, neben dem Telefonieren Staub wischte, Wäsche zusammenlegte oder kochte. Der Akku des Geräts war schon altersschwach, so dass ausgiebige Telefonate kaum mehr möglich waren, aber seit jedes Mitglied der Familie ein eigenes Handy besaß, telefonierte ohnehin fast keiner von ihnen mehr über Festnetz.

Jan wischte beim Telefonieren nie Staub oder legte Wäsche zusammen. Vorzugsweise telefonierte er gar nicht. An diesem Morgen aber stand er mit dem Hörer in der Hand und einem Stein in der Magengrube am Wohnzimmerfenster. Ein paarmal tippte er eine Kölner Rufnummer ein, doch noch bevor ein Freizeichen ertönen konnte, drückte er jedes Mal sofort wieder auf die rote Taste.

Ich kann das nicht.

Er blickte auf den Wald, der sich hinter dem Haus bis weit in den Norden erstreckte. Es war ein trüber, nasskalter Vormittag und so dunkel, dass Jan das Licht anmachen musste, obwohl es schon beinah zwölf Uhr war. Einige Wolkenschwaden hingen so tief, dass die Baumwipfel darin

verschwanden.

Kaya war jeden Morgen nach dem Aufstehen zwei Stunden lang durch diesen Wald marschiert. Sie hatte dazu nie einen Hund gebraucht, wie die meisten anderen Menschen. Die Bäume waren ihr Gesellschaft genug gewesen. Dort, unter einem dieser Bäume, wäre eigentlich der passendere

Ort für Kayas Asche, dachte Jan, nicht dieses kümmerliche Urnengrab auf dem Dorffriedhof. Aber wahre Freiheit wurde den Menschen nicht einmal im Tod gewährt.

Ein weiteres Mal tippte er die Nummer der Frau ein, die er heute anrufen sollte, und die passend zu seiner Stimmung Sieglinde Schwermuth hieß, Kayas Grundschullehrerin. Er kannte niemanden, der sein Leben lang den Kontakt zu seiner Grundschullehrerin aufrechterhalten hatte.

Außer Kaya.

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Schnell stellte er den Hörer zurück auf die Ladestation. Sein Sohn Finn stand in der Tür, mit hängenden Schultern und blassem Blick. Er war im letzten Jahr so in die Höhe geschossen, dass er offenbar glaubte, nur noch gebückt durch Türen zu passen. »Ich bin weg.«

»Wie weg? Wohin?«

»Och, Papa! Ich hab einen Wettkampf heute. Weißt du doch.«

Jan zerrte seine Gedanken weg von Frau Schwermuth und seiner verstorbenen Frau hin zu seinem lebendigen Sohn. »Wettkampf. Ja. Stimmt. Wo noch mal?« Finn spielte seit zwei Jahren Basketball. Er war gut darin, nicht zuletzt, weil er alle anderen um mindestens eine Kopflänge

überragte.

So wie Finn ihn ansah, ahnte Jan, dass er ihn bereits mehrfach über den Spielort informiert haben musste.

»Spielplan hängt in der Küche. Ich muss los, der Bus kommt gleich. Tschüss.«

Die Tür knallte ins Schloss, und im selben Augenblick schrillte das Telefon. Im Display die Kölner Nummer, die er eben mehrfach gewählt hatte. Jan presste die Hände auf die Ohren und wartete, bis das Klingeln verstummt war.

 

Es war ein Versuch, Jan. Immerhin.

Weißt du, was das Schlimmste am Sterben ist? Es ist der Verlust der Fähigkeit, sich mitteilen zu können. Es gibt so vieles, was ich dir noch würde sagen wollen, weil es dir helfen könnte in diesem neuen Job, den du jetzt antreten musst.

Ich würde dir auch danken wollen, tausendmal und immer wieder. Für den Platz in eurer Mitte, im Wohnzimmer am großen Fenster. Den Blick in den Garten und auf den Wald dahinter, den du mir geschenkt hast, in den letzten Stunden.

Du warst mein Schutzengel, das beste Geschenk meines Lebens, bist es auch jetzt noch, wo das, was einmal Ich war, in dieser Urne steckt, die du für mich gemacht hast.

Ich weiß, wie schwer das für dich war. Aber sie ist wundervoll, und vielleicht hilft es dir ein bisschen, so etwas Schönes für mich geschaffen zu haben, auch wenn ich es am allerwenigsten brauche.

Du bist mir während des Sterbens nicht von der Seite gewichen – und es hat ja ziemlich lange gedauert. Ich wollte deine Hand nicht loslassen und du nicht meine. ›Du darfst gehen‹, hast du irgendwann gesagt, ›ich schaffe das schon. Lass los.‹ Dabei hast du genauso wenig loslassen können wie ich. Ich habe gekämpft, um jede Woche, jeden Tag, jede Stunde mit euch. Die Zeit war zu kurz. Und doch war es eine kleine glückliche Ewigkeit.

Liebe ist das Einzige, das wir über die Grenzen des Lebens hinaustragen, wusstest du das? Vielleicht könnt ihr mich ja noch spüren, so wie ich euch, auch wenn im Alltag die Fähigkeit, das Wesentliche wahrzunehmen, so leicht verlorengeht.

 

 

Kaya hatte ihm aufgetragen, für einen möglichst normalen Alltag zu sorgen – auch in den ersten Wochen nach ihrem Tod. Die Routine würde helfen, nicht ins Straucheln zu geraten, ihm genauso wie den Kindern. Aber die Routine half nicht gegen die Stille im Haus. Nicht einmal Herr Johansson half dagegen. Der Graupapagei hockte in seinem Käfig und putzte sein Gefieder. Nur manchmal plapperte er die Worte nach, die gesprochen wurden, aber das waren nur sehr wenige.

Kaya hatte Herrn Johansson eines Tages von einer der Frauen mitgebracht, die sie als Hebamme betreute, weil die junge Mutter fürchtete, das Tier könnte eifersüchtig auf ihr neugeborenes Baby sein und es womöglich attackieren. Kaya hatte immer ein Herz für unerwünschte Wesen gehabt, auch wenn sie an den Nerven zerrten und Dreck machten. Als Kaya ihn übernahm, hatte Herr Johansson noch keinen Namen und sprach kaum. Er wurde einfach nur Papagei genannt. Kaya fand, jedes Lebewesen hätte das Recht auf einen Namen, und taufte ihn Johans Sohn, weil er ähnlich schweigsam war wie Jan. Damals war Finn noch nicht geboren, und sie war der Meinung, mit diesem Namen würde es Jan leichter fallen, eine emotionale Bindung zu dem Tier aufzubauen. Aus Johans Sohn war im Lauf der Zeit Herr Johansson geworden. Später hatten

die Kinder Gefallen daran gefunden, dem Tier Schimpfwörter beizubringen, den Rest hatte es ganz von selbst gelernt.

Wenn die Kinder nicht zu Hause waren, trug Jan Herrn Johanssons Käfig in die Werkstatt. Er wollte nicht, dass der Papagei den ganzen Tag allein in der Küche saß und eine Depression bekam. Vielleicht wollte auch er nicht den ganzen Tag allein in seiner Werkstatt sein. Früher hatte er das Alleinsein während der Arbeit genossen. Jetzt konnte er es kaum ertragen und empfand selbst die Gesellschaft eines Papageis als tröstlich.

Heute ging Jan nicht in seine Werkstatt, denn um neun Uhr kam der Pfarrer. Jan hatte ihn nicht darum gebeten. Der Pfarrer kam immer in die Häuser, in denen ein Mensch gestorben war. Diese Besuche gehörten zu seinen seelsorgerischen Pflichten, die er auch bei jenen Seelen des Dorfes wahrnahm, die bestens ohne ihn zurechtkamen. Zwar hatte Jan versucht, ihm zu erklären, dass er keinen kirchenseelsorgerischen Beistand benötigte, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten,

sich trotzdem anzukündigen, auch wenn er, anders als üblich, erst nach der Bestattung vorbeikam. Aber da Kaya nicht kirchlich beigesetzt worden war, hatte er es offenbar nicht so eilig gehabt mit seinem Besuch.

Jan hielt es für eine gute Idee, Herrn Johansson bei dem Gespräch mit dem Pfarrer dabeizuhaben, so würde auch keine unangenehme Stille entstehen.

Jan ging in der Küche auf und ab, während er wartete. Herr Johansson beäugte ihn stumm. Jan dachte daran, wie Lina ihn gefragt hatte, ob er glaube, Kaya sei immer noch da. In den ersten Stunden nach ihrem Tod hatte er sie intensiv gespürt, wie eine Umarmung ohne physische Berührung. Diese Empfindung war einer merkwürdigen Taubheit gewichen, einer Art Gefühlsnebel, der sich nur hin und wieder lichtete. Was dann zum Vorschein kam, war weder hell noch klar, sondern einfach nur dunkel und schmerzhaft.

Was blieb, wenn ein Mensch gegangen war?

Haftzettel auf dem Kühlschrank zum Beispiel. So viele, dass die Kühlschranktür darunter beinah verschwand. Ein ganzes Familienleben auf bunten Zetteln, dazwischen ein paar alte Urlaubsfotos, die Einladung zu einem Elternabend, der längst stattgefunden hatte, und Karten mit Arztterminen aus den vergangenen Monaten, die niemand weggeworfen hatte.

Die ersten Zettel, die Kaya beschrieben hatte, hingen links oben. Kaya hatte sich systematisch durch ihren Alltag gearbeitet, ihre inneren To-do-Listen auf gelben, blauen, grünen und pinkfarbenen Zetteln verewigt. Eine perfekt vorbereitete Übergabe, auf die Jan bei aller Vorbereitung nicht vorbereitet war.

Links oben standen alle Zugangscodes und Passwörter. Jan hatte gar nicht gewusst, dass es so viele davon in ihrem gemeinsamen Leben gab. Sogar der Zugang zum finanziell sorgenlosen Sterben erforderte ein Passwort. Die Versicherung dafür hatte Kaya schon vor Jahren abgeschlossen. Jan war das gruselig vorgekommen, schließlich war sie damals erst Mitte dreißig gewesen. Aber Kaya hatte im Lauf ihrer gemeinsamen Jahre immer wieder davon gesprochen, mit dem Tod geboren worden zu sein und ein geliehenes Leben zu führen. Wer oder was es ihr geliehen hatte, war für Jan nie wirklich nachvollziehbar gewesen, aber Kaya hatte im Bewusstsein gelebt, ihr Schuldner könnte dieses geborgte Leben jeden Tag von ihr zurückfordern. So war sie immer auf ihren Tod vorbereitet und hatte auch ihre Beerdigung bis ins Detail geplant, als sie dazu noch in der Lage war. Kaya war nicht getauft, hielt die Kirche

für eine zivilisatorische Verirrung, weshalb eine kirchliche Bestattung für sie nicht in Frage kam, auch wenn sie in der Gemeinde aktiv gewesen war, Kleidersammlungen für Flüchtlinge organisiert, auf Pfarrfesten Waffeln gebacken und den Kinderspendenlauf der katholischen Grundschule organisiert hatte.

Für ihre Beisetzung hatte sie eine Trauerrednerin engagiert und mit Jan zusammen die Stelle auf dem Dorffriedhof ausgesucht, an der ihre Asche nun vergraben war. Sie hatte Dateiordner angelegt, in denen die Liste mit den einzuladenden Gästen und der Text für die Einladungskarte

hinterlegt waren. Die Adresse des Beerdigungsinstituts hing hier am Kühlschrank. Jan brauchte sie jetzt nicht mehr, den Zettel könnte er wegwerfen. Vieles könnte er wegwerfen, aber er schaffte es nicht. Solange alles noch so war, wie Kaya es hinterlassen hatte, fühlte es sich an, als wäre auch noch ein Stück von ihr da.

Auf Jans Blickhöhe klebten die Abfahrts- und Ankunftszeiten des Schulbusses, die Rufnummern der Klassenlehrer, des Zahnarztes und der besten Freunde von Lina und Finn. Auf zwei aus einem Notizblock herausgerissenen Blättern hatte sie die Rezepte der Lieblingsgeburtstagskuchen der Kinder notiert und mit Magneten an den Kühlschrank gehängt. Für Finn einen Schoko-Keks-Kuchen, für Lina eine Häschentorte mit Zitronenguss. Zum Glück dauerte es noch ein paar Monate bis zum nächsten Geburtstag. Bis dahin konnte er das mit dem Backen vielleicht schon mal üben.

Daneben auf einem pinkfarbenen Zettel ein Sinnspruch, den Kaya irgendwo mal gelesen und für so wichtig erachtet hatte, dass sie ihn aufgeschrieben und genau in die Mitte geklebt hatte: Lerne, jeden Tag etwas zu verlieren.

Es war sinnlos, diese pinkfarbene Zumutung ignorieren zu wollen. Ebenso sinnlos, wie der Versuch, die Wut zu kontrollieren, die der Satz bei ihm auslöste. Am Tag nach Kayas Tod hatte Jan ihn abgerissen und in den Mülleimer geworfen, aber gleich darauf reuevoll wieder herausgeholt. Nun stank er leicht nach Fisch, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Jans Blick fiel auf den letzten Zettel, den Kaya angeklebt hatte. Er hing unten rechts, darauf ein mit flattriger Linie gezeichnetes Herz. Es ragte ein klein wenig über die Kühlschranktür hinaus, als könne es sich nicht entscheiden, ob es in dieser klar umzirkelten Zettelwelt verbleiben oder sich doch lieber im Ungefähren verlieren wolle.

Dies war der Moment, in dem Jan sich fragte, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als hier in der Küche herumzustehen und auf einen Pfarrer zu warten, den er nicht brauchte. Einkaufen zum Beispiel. Er öffnete den Kühlschrank. Darin war nichts bis auf ein fast leeres Glas Erdbeermarmelade, etwas Margarine und die aufgetaute Hühnersuppe, die er gestern im Tiefkühlschrank gefunden hatte. Eine Plastikbox, sorgfältig beschriftet mit Datum aus dem vergangenen Frühjahr. Er konnte die Suppe weder essen noch wegschütten. Vielleicht sollte er sie wieder einfrieren, damit auch dieses Stückchen Kaya noch eine Weile erhalten blieb.

Und natürlich war da Linas Schildkröte Simone im Kühlschrank, die auf das Frühjahr wartete. Wenn sie nicht inzwischen auch gestorben war. Wer wusste schon einen Schildkröten-winterschlaf von einem Schildkrötentod zu unterscheiden?

 

 

Ach Jan, wir hätten die Suppe noch zusammen essen sollen, bevor ich gar nichts mehr runterkriegen konnte.

Wie oft habe ich mir gewünscht, Momente einfrieren zu können, so wie diese Hühnersuppe. Und doch konnte ich ohne das Gefühl gehen, mit dir irgendetwas versäumt zu haben. Außer natürlich das gemeinsame Altwerden. Wie gern hätte ich mit dir noch diese zweite Verliebtheit erlebt,

die kommt, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Jetzt werden die Kinder gehen, und ich werde den Schmerz, sie ziehen lassen zu müssen, nicht mehr spüren. Ich werde nicht erleben, wie sie sich zum ersten Mal verlieben. Ich werde sie nicht trösten können, wenn sie mit sich hadern

oder Liebeskummer haben. Ich werde sie nicht voller Glück in den Arm nehmen können, wenn sie ihre letzte Schulprüfung bestanden haben. Ihren Führerschein. All das müssen sie ohne mich durchstehen. Und das werden sie. Weil du für sie da bist – für mich mit.

Simone geht es gut, Schildkröten brauchen nicht viel. Lina kümmert sich um sie, das hat sie immer getan, schon als sie noch ganz klein war. Vielleicht würde es Finn helfen, wenn er sich auch um ein Lebewesen kümmern könnte. Um einen Hund zum Beispiel. Du wolltest nie einen Hund haben, aber vielleicht änderst du deine Meinung Finn zuliebe – auch wenn es irgendwann an dir hängenbleiben wird, mit ihm Gassi zu gehen. Wenn du meinen Rat hören möchtest, dann den, dass du Finn und Lina mit zum Einkaufen nehmen solltest, sie machen das gern. Bitte sie um Hilfe – das wird ihnen helfen, mit ihrer eigenen Not besser fertig zu werden. Aber du bittest

ja nie jemanden um Hilfe, nicht wahr? Nicht einmal jetzt, wo du sie so dringend brauchst.

Die Zettel am Kühlschrank sollen euch meinen Abschied erleichtern. Ich hab ja gewusst, wie wichtig das Unwichtige werden kann, wenn das Wichtigste verloren ist.

Den Sinnspruch zum Verlieren darfst du gerne wegwerfen. Ich werde dir deswegen nicht böse sein.

 

 

Der Pfarrer kam zu spät. Nicht erheblich zu spät, aber doch spät genug, um Jan einen Grund zu geben, mehrmals auf die Uhr zu sehen, häufiger als es die Höflichkeit gebot. Er war kein unsympathischer Mensch, dennoch fiel es Jan schwer, nicht ungehalten zu sein und ihm zuzuhören. Er war erkältet, nieste und schnäuzte sich ein paarmal unangenehm laut. Dann entschuldigte er sich, und Herr Johanssonn rief »GesundheitGesundheit.«

Der Pfarrer sagte viel Erwartbares, auch wenn Jan sicher war, dass er bei einer kirchlichen Bestattung noch weitaus mehr Erwartbares erzählt hätte. Im Wesentlichen, so erklärte er, sei er gekommen, um Hilfe anzubieten, um zu sagen, dass die Damen, die ehrenamtlich in der Gemeinde tätig waren, Jan in dieser schweren Zeit auch bei der Bewältigung von Alltäglichem sehr gern zur Seite stünden. Er solle nicht glauben, nur weil Kaya nicht getauft gewesen sei, würde er sie nicht als Teil der Gemeinde ansehen.

»Gott nimmt uns alle an«, sagte er, »ganz gleich, ob wir an ihn glauben oder nicht.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank«, sagte Jan. »Aber ich denke, wir kommen schon zurecht.«

»Haben Sie Familie in der Nähe?«, fragte der Pfarrer. »Jemanden, der sich um die Kinder kümmert, wenn Sie … hatschi … Entschuldigung. Also, wenn sie … «

»Sicherheitsabstand«, krähte Herr Johansson.

Jan warf ihm einen strengen Blick zu.

Der Pfarrer ließ sich nicht beirren. » … viel Arbeit haben oder auch einfach ein paar Tage für sich brauchen?«, fuhr er fort.

Es gab nichts, was Jan weniger brauchte als ein paar Tage für sich – außer vielleicht ältere Damen, die ihm bei einer Tasse Tee Trost spenden wollten. »Wir haben Freunde in der Nähe«, log er. Andrea und Christian, die einzigen Freunde, die er womöglich in seiner Nähe hätte ertragen können, lebten in Berlin. Kaya und Andrea hatten in Berlin zusammen in einer WG gewohnt und waren beste Freundinnen gewesen. Andrea musste er bald anrufen. Nicht, weil er es wollte, sondern weil sie in Kayas Geburtstagskalender stand. Wenn er Andrea um Hilfe bitten würde, dann würde sie das ganz sicher tun. Aber wobei sollte sie ihm helfen? Wobei könnte ihm überhaupt irgendjemand helfen?

»Passt schon alles«, sagte er.

Der Pfarrer sah ihn skeptisch an.

»Kayas Mutter kümmert sich«, ergänzte Jan schnell, und das war so sehr gelogen, dass selbst Herr Johansson hätte rot werden müssen, wenn er es gekonnt hätte. Kayas Mutter Elke hatte seit April nichts von sich hören lassen. Da war Kaya noch felsenfest überzeugt gewesen, den Krebs besiegen zu können, und hatte ihr vorsichtshalber nichts von ihrer Krankheit erzählt – erst recht nichts von dem Therapieplan, den ihr Onkologe aufgestellt hatte.» Sie wird so lange auf mich einreden, bis ich die Therapie abbreche und mich von ihr behandeln lasse«, hatte sie gesagt, als Jan darauf gedrungen hatte, Elke die Wahrheit zu sagen. Elke hielt die moderne Schulmedizin für Teufelswerk. »Die Ärzte machen uns krank«, sagte sie immer und sah es als ihre Aufgabe an, die Menschen von den Leiden zu befreien, die sie sich durch Impfungen und Medikamente

zuzogen.

Bis zuletzt hatte Jan gehofft, dass Kaya ihre Mutter noch einmal würde sehen können, doch sie war nicht gekommen. Nicht einmal zur Beerdigung. Natürlich besaß sie wegen der gefährlichen Strahlungen kein Handy, und da sie ständig ihren Aufenthaltsort wechselte, wusste Jan nicht, ob die Nachricht von Kayas Tod sie überhaupt erreicht hatte. Allerdings liebte sie spontane Stippvisiten. In den wenigen Stunden, die sie dann bei ihnen war, stellte sie stets das Haus auf den Kopf, um sich keinerlei gefährlicher Strahlungen auszusetzen, nur um dann unvermittelt wieder für Monate aus Kayas Leben zu verschwinden. Nun war Kaya unwiederbringlich aus ihrem Leben verschwunden, und Jan fürchtete sich vor dem Tag, an dem Elke unangekündigt

vor der Tür stehen würde.

Der Pfarrer lächelte, wie ein Pfarrer lächelt, wenn er zu wissen meint, was im Kopf eines seiner Schäfchen vorgeht. Dann nickte er und sagte: »Ich will Sie nicht länger aufhalten.

Sie haben sicher zu tun.«

»Das stimmt.« Es klang ein wenig unhöflicher als gedacht, deshalb schob Jan noch schnell nach: »Danke für Ihren Besuch.«

Er begleitete den Geistlichen zur Tür und registrierte, wie dessen Blick im Vorbeigehen auf ein Bild von Kaya mit Herrn Johansson auf der Schulter fiel, das auf dem Wohnzimmertisch stand, direkt neben den Beileidskarten und dem Geburtstagskalender. Jan hatte den Kalender aus

dem Küchenregal genommen und nach seinem Anrufversuch bei Frau Schwermuth hier aufgeschlagen liegenlassen. Ein Kugelschreiber lag auf der offenen Seite, dessen Spitze wie ein mahnendes Ausrufezeichen auf das Datum, den 19. Oktober, wies. Der war morgen. Papa, stand da in Kayas geschwungener Schrift, 0033 – 685846357.

Der Pfarrer blieb kurz stehen und segnete das Bild. Vielleicht segnete er auch den Kalender, Jan hatte keine Ahnung.

»Wir sind für Sie da, wenn sie uns brauchen«, sagte er noch, und dann war er weg. In der Küche krächzte Herr Johansson, »DankevielmalsaufWiedersehen.«

 

 

19. Oktober

 

Bis auf den misslungenen Anrufversuch bei Frau Schwermuth war Jan bislang sein Versprechen schuldig geblieben, die Menschen in Kayas Geburtstagskalender anzurufen. Heute aber musste es sein, schon allein, weil im Kalender Papa stand und nicht etwa Frank oder Vater.

Jan kannte diesen Frank Steinborn nicht und hatte auch nie das Bedürfnis verspürt, ihn kennenzulernen. Als Kaya in sein Leben getreten war, hatte es für sie noch keinen Papa gegeben. Sie hatte von ihm nur als ihrem Erzeuger gesprochen und schien keinerlei Interesse zu haben, ihn näher kennenzulernen. Das hatte sich erst geändert, als sie nach ihrem nicht bestandenen Physikum in eine Sinnkrise geraten war. Während einer Therapie hatte sie herausgefunden, dass sie ihren Vater nur ihrer Mutter zuliebe verleugnete und es ihrer psychischen Gesundheit abträglich war, sich ihm gegenüber zu verschließen. Spontan war sie nach Südfrankreich gereist, wo er zu dem Zeitpunkt lebte. Sie hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, dass ihr Vater ein charmanter Nichtsnutz war, der wenig anderes konnte, als Geld auszugeben, das er nicht selbst verdiente. Er stammte aus einer sehr reichen Unternehmerfamilie, der es offenbar lieber war, ihm sein kostspieliges Leben zu finanzieren, als ihm irgendeine Verantwortung zu übertragen. Zumindest aber gab er Kaya das Gefühl, dass es keine Schande war, an einem Studium zu scheitern. Kurz nach ihrer Rückkehr brach sie ihr Medizinstudium ab und wurde das, was sie im Herzen schon immer gewesen war – ein Mensch, der anderen Menschen ins Leben half. Sie verzieh ihrem Vater, dass er sich mit Geld aus der

Verantwortung ihr gegenüber freigekauft hatte, und sah ihm seine Oberflächlichkeit nach. Ein Loch im Gewebe ihres Daseins schien geflickt, ganz gleich wie schadhaft die Stelle auch sein mochte.

Zum Telefonieren zog Jan sich in seine Werkstatt zurück – an den einzigen Ort, wo er in diesen Tagen innere Ruhe finden und er sich der Illusion hingeben konnte, dass alles wie immer war. Und wo es nicht nach Kaya roch, sondern nach frisch gehobelten Spänen und Holzleim. Herrn Johansson ließ er in der Küche, bei diesem Anruf konnte er keinen plappernden Papagei gebrauchen.

In der Werkstatt stand noch ein altes Schnurtelefon, mit dem er seine geschäftlichen Telefonate erledigte. Ein Ferngespräch nach Frankreich hatte er von hier aus noch nie geführt, auch wenn er eine Reihe internationaler Kunden hatte. Reiche Menschen, die ihre extravaganten Wünsche

bei ihm in Auftrag gaben. Die Kommunikation mit ihnen hatte immer Kaya übernommen, weil sie deutlich besser Englisch konnte als er. Auch damit musste er jetzt allein zurechtkommen.

Er legte Kayas Kalender vor sich auf den Tisch, hob den Hörer an und setzte zum Wählen an. Ein wackliges Gefühl in den Beinen zwang ihn, sich zu setzen.

Was sollte er sagen? Guten Tag, mein Name ist Jan Bode. Ich bin der Mann ihrer Tochter. Sie hat mich gebeten, Ihnen an ihrer Stelle zum Geburtstag zu gratulieren, denn sie ist leider neulich gestorben. Absurd.

»Warum tust du mir das an?«, sagte er zu Kayas Kalender. »Du weißt doch genau, wie schwer mir so was fällt!«

Ein tiefer Atemzug. Einmal räuspern. Wählen. Bevor ein Freizeichen ertönte, hatte er schon wieder aufgelegt. Herzklopfen. Warum durfte er nicht einfach eine E-Mail schreiben? Kaya war weg, tot, einfach überhaupt nicht mehr da. Es war vollkommen egal, auf welchem Weg er

diesem Mann gratulierte. Wütend klappte er den Kalender zu und griff zum Besen. Als ob er nicht genug zu tun hätte. Überall lagen Holzreste und Späne auf dem Boden herum.

 

Bitte.

 

Er hielt in der Bewegung inne, lauschte in die Stille. Vielleicht sollte er doch Herrn Johansson holen. Der konnte mit seinem Geplapper wenigstens sein schlechtes Gewissen übertönen. Er stellte den Besen beiseite und trat auf den Hof, um zum Haus hinüberzugehen.

 

Tu es. Du hast es mir versprochen.

 

Eine plötzliche Windböe wirbelte das trockene Laub auf, das er schon vor Wochen hatte zusammenfegen wollen. Das Rascheln klang wie ein Flüstern. Sei kein Feigling!

Ruckartig machte er kehrt. Er schlug den Kalender wieder auf und blätterte vor bis zum 19. Oktober. Nachdem er sich ein paar Sätze zurechtgelegt hatte, wählte er erneut, mit zitternder Hand zwar, aber diesmal legte er nicht auf.

»Ja, hier Frank.«

Ungeduldig klang das. Wobei störte er gerade? Er hörte Rauschen im Hintergrund.

»Äh … Ja, hallo, hier ist Jan. Können Sie mich verstehen?«

»Wer ist Jan?«

»Jan Bode. Ich bin … also, ich war der Mann von Kaya.«

»Kaya! Ah! Der Jan!«

Am anderen Ende der Leitung schien es sehr windig zu sein.

»Ja, genau. Ich … Es ist … also, ich soll Ihnen zum Geburtstag gratulieren.« So. Das war schon mal erledigt.

»Na, das ist ja mal eine Überraschung.«

»Es ist nämlich so … «

»Hallo? Ich kann Sie ganz schlecht verstehen. Eine Sekunde, ich muss … «

Es krachte und knackste, dann war die Leitung tot. Erleichtert legte Jan auf. Er hatte seine Pflicht erfüllt. Vielleicht würde er irgendwann – in ein paar Wochen – noch einmal anrufen und Frank über Kayas Tod informieren. Nicht heute, nicht an seinem Geburtstag.

Da schrillte das Telefon. Ein hässlicher Ton, laut, damit es trotz Maschinenlärm zu hören war. Zögernd nahm er den Hörer ab.

»Warum ruft sie nicht selbst an? Ist etwas mit ihr?« Die Windgeräusche waren jetzt leiser. Der Mann hatte eine sympathische Stimme. Das hatte Jan nicht erwartet.

»Ja.« Mehr brachte er nicht heraus.

»Sie müssen mir schon sagen, was.«

»Sie ist tot!«, flüsterte er.

Wieder rauschte es in der Leitung.

»Ich kann sie nicht verstehen. Ich bin auf der Yacht, schlechter Empfang hier. Rufen Sie mich morgen an, da bin ich … «

»Kaya ist tot!«, schrie Jan.

Windgeräusche überlagerten das Schweigen von Frank Steinborn. Dann hörte Jan nur: »Scheiße.«

 

Ja, Papa. Genau. Sterben ist ganz große Scheiße, vor allem, wenn es zur Unzeit passiert. Das einzig Positive daran ist, dass du dir plötzlich der Bedeutung bewusst wirst, die ich für dich habe, etwas, wonach ich mich ein Leben lang gesehnt habe. Wenn auch wahrscheinlich nur für ein paar Stunden …

 

»Tut mir leid«, sagte Jan. »Ist nicht so passend heute. Aber Kaya wollte … Wie auch immer.«

»Wie ist das passiert? Ein Unfall?«

»Sie hatte Krebs.«

»Fuck. Warum hat sie mir nichts davon gesagt?«

Jan wusste es nicht. Kayas Vater hatte immer nur am äußersten Rand seines Bewusstseins existiert.

»Vielleicht wollte sie nicht, dass Sie sich Sorgen machen.«

 

Als ob …

 

»Ich hätte … Ach Scheiße.«

Fluchen konnte der Mann immerhin. »Wie gesagt. Es tut mir leid, wollte Ihnen nicht den Geburtstag versauen.«

»Ist schon okay. Sie waren ja näher an ihr dran.«

So konnte man es wohl ausdrücken.

»Hören Sie, ich … «

Schnell, bevor Frank Steinborn ihm erklären würde, dass er jetzt leider zu seinen Geburtstags-gästen zurückzukehren hätte, sagte Jan: »Ich muss jetzt Schluss machen. Schönen Segeltörn noch.« Damit legte er auf.

 

 

[...]

 

NOVEMBER

Der erste Novembertag nach Kayas Tod begann genauso, wie Jan sich den traurigsten November seines Lebens vorgestellt hätte, wenn er ihn sich je hätte vorstellen wollen.

Es wurde gerade hell, als er aufwachte. Durch das um einen nwinzigen Spaltbreit geöffnete Dachfenster kroch die feuchte Morgenkälte ins Zimmer und legte sich klamm auf seine Bettdecke. Er schlief jetzt im Gästezimmer unter dem Dach. Die Schlafzimmertür war seit dem Tag, an dem Kaya das letzte Mal dort geatmet hatte, fest verschlossen geblieben. Wann er sie je wieder öffnen würde, wusste er nicht.

Jan war zu groß für jedes handelsübliche Bett, und so ragten seine Füße immer ein wenig über das Fußende hinaus. In kalten Nächten behalf er sich mit einer Wolldecke, die er um die Füße wickelte, doch gegen die Art von Kälte, die heute herrschte, half das nicht. Als er aufstand, um das Dachfenster zu schließen, warf er einen Blick hinaus und sah in ein farbloses, waberndes Nichts. Die Doppelhaushälften mit ihren SUVs, das Dorf, ja, sogar der Ahorn, der unmittelbar neben der Hofeinfahrt stand, waren verschwunden. Jan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass alles in dichten Nebel gehüllt war. Dazu herrschte eine beinah gespenstische Stille. Ein Gefühl von Unwirklichkeit erfasste ihn. Vielleicht war doch alles nur ein entsetzlicher Albtraum. Ja, sogar ganz sicher war es einer, das Problem war nur: Es gab kein Erwachen daraus.

Jan zitterte am ganzen Körper, als er die Treppe hinunterging, um sich erst mal einen Kaffee zu kochen. Als er den ersten Schluck getrunken hatte, ging es ihm schon ein wenig besser – bis zu dem Augenblick, in dem er aus dem Küchenfenster sah.

Unmittelbar vor ihm wuchs ein riesiges, blaugrünes Ungetüm wie eine absurde Fata Morgana aus dem dichten Nebel. Jan blinzelte ein paarmal, doch die Erscheinung blieb. Das Ding stand nur wenige Meter vom Haus entfernt, hatte Fenster, Reifen und eine mit bunten Blumen bemalte Tür. In den Fenstern hingen Gardinen, und quer über die Seite zog sich ein Regenbogen.

»Ein Campingbus!« Der Klang seiner eigenen Stimme holte Jan zurück in die Realität. Jetzt parkten diese Vanlife-Freaks schon in seinem Innenhof! Er rannte in den Flur, riss die Haustür auf und schrie:

»He, was soll das? Das hier ist ein Privatgrundstück!«

Nichts regte sich. Im Pyjama und mit nackten Füßen lief er einmal um das Gefährt herum und hämmerte gegen die geblümte Tür.

»Machen Sie, dass Sie von unserem Hof runterkommen, aber schnell!«

Die Tür ging auf und ein sonnengegerbtes Männergesicht, umrahmt von langen, grauen Haaren erschien, »Ruhig Blut, junger Mann. Das Tor stand offen. Wir wollten nicht mitten in der Nacht stören.«

»Was bilden … «

Jetzt ging die Tür ganz auf, eine große, schlanke Frau in einem wallenden, weißen Gewand schob sich an dem Kerl vorbei, stieg aus dem Bus und schloss Jan in die Arme. Ihre Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Außer Lina hatte ihn, seit dem Moment, an den er nicht mehr

denken wollte, niemand mehr angefasst. Als Elke ihn losließ, wich Jan zwei Schritte zurück.

»Ich habe es nicht früher geschafft, Jan. Wir waren zu weit weg.«

Kayas Mutter, sechs Wochen zu spät, um der Beisetzung ihrer Tochter beizuwohnen. Sie roch, als könnte sie dringend eine Dusche vertragen.

»Wie seid ihr … das Tor … ich habe es doch … «

Elke unterbrach sein Gestammel. »Ist sie in Frieden gestorben?«

Jan war unfähig, die Bedeutung ihrer Frage zu erfassen.

»Sie ist auf dem Dorffriedhof begraben«, erwiderte er

schließlich, weil es das Einzige war, das er mit Gewissheit sagen konnte.

Elke sog tief Luft durch die Nase ein. Dann hielt sie beide Hände in die Höhe und blickte in den Himmel. »O ja, ich spüre es. Die Stille hier. Ein guter Ort zum Sterben.«

Jan schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. »Du musst es ja wissen«, sagte er dann und wies mit dem Kopf in Richtung Haus. »Wollt ihr Kaffee?«

Sie wollten vor allem erst einmal lange und heiß duschen. Das hätten sie bereits seit Monaten nicht mehr getan, verriet Chris, der schlaksige Altrocker, den Elke als ihren Lebensabend-

Weggefährten vorstellte. Die Haare hatte er inzwischen zu einem dünnen Zopf zusammen-gebunden und sah jetzt beinah aus wie ein Mensch. Herr Johansson war hoch erfreut über den Besuch und begrüßte die Neuankömmlinge mit fröhlichem Krakeelen.

Während Elke unter der Dusche war, erzählte Chris, dass sie auf dem Landweg nach Indien unterwegs gewesen seien, als Elke die Nachricht vom bevorstehenden Tod ihrer Tochter erhalten hatte.

»Aber wie?«, fragte Jan. »Sie hat doch kein Telefon.«

»Kaya hat einen Brief geschrieben.«

»KayaKayaKaya«, kam es aus Herrn Johanssons Käfig, und Jan blickte unwillkürlich zur Tür, als müsste sie dort auftauchen.

Jan wusste nichts von einem Brief. Genauso wenig von der Tatsache, dass Kaya den Aufenthaltsort ihrer Mutter gekannt hatte.

»Sie hat nicht gewusst, wo wir sind. Er kam mit ziemlicher Verspätung bei uns an, weil sie ihn zu Elkes Schwester geschickt hatte. Die wusste, dass Elke nach Indien wollte, und hat … « Es folgte eine ausführliche Erklärung, wie es Kayas Tante gelungen war, über die deutschen Botschaften der Länder, die auf Elkes Reiseroute lagen, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen und ihr den Brief zukommen zu lassen. Kayas Tante lebte in Rom und hatte einen liebevollen Beileidsbrief geschickt. Zur Beerdigung hatte sie nicht kommen können, weil sie, wie sie schrieb, inzwischen kaum noch laufen und so eine weite Reise nicht auf sich nehmen konnte. Sie war deutlich älter als Elke, und Jan hatte nicht mit ihrer Anwesenheit gerechnet,

obwohl sie die einzige Person aus Kayas ramponierter Familie gewesen wäre, gegen deren Besuch er nichts einzuwenden gehabt hätte.

»Wir waren in Aserbaidschan und haben sofort kehrtgemacht, aber … « Chris hob entschuldigend die Arme und sah tatsächlich so aus, als bedaure er die Verspätung sehr.

»Kein Ding«, sagte Jan leichthin. Er staunte, wie gelassen er bleiben konnte. »Ihr hättet ohnehin nichts mehr für sie tun können.«

»Sehr viel hätte ich tun können!« Elke war unbemerkt in die Küche getreten. Sie trug seinen Bademantel. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr mir nichts gesagt habt.«

»Kaya wollte es nicht.«

»Ich weiß. Das stand in ihrem Brief.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah auf einmal sehr erschöpft und alt aus. Ihr einst fuchsbraunes Haar war inzwischen fast genauso grau wie Jans Bademantel. Sie trug es in einem lockeren Knoten hoch auf dem Kopf, was ihrem schmalen

Gesicht mit den hohen Wangenknochen etwas Hoheitsvolles verlieh. Dem tat auch der viel zu große Bademantel keinen Abbruch.

Jan reichte ihr einen Becher Kaffee. »Hast du Hunger?«

Sie winkte ab. »Wir essen nur einmal am Tag. Hält Körper und Seele rein.«

»Soso.« Jan stellte demonstrativ ein Nutellaglas auf den Tisch und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchentheke. »Sie hat auf dich gewartet«, sagte er.

»Auch das weiß ich.« Es klang müde. Elke stand auf, öffnete Herrn Johanssons Käfig und hielt ihm ihren Finger hin, auf den er sofort kletterte. »Na, mein Freund? Wie ist das Leben?«

Der Papagei hüpfte auf ihre Schulter und krächzte: »Lebenverfluchtnochmal!«

Mit dem Vogel auf der Schulter wanderte Elke durch die Küche, blieb vor dem Kühlschrank stehen und studierte für eine Weile die Haftzettel, die daran klebten, während Herr Johansson an ihrem Ohr knabberte.

»Was du nicht weißt, mein lieber Jan … « Sie wandte sich zu ihm um. »Ich war die ganze Zeit bei ihr.«

Aha. Er hätte es sich denken können.

»Ich bin es auch jetzt noch.«

»Stimmt. Du bist ja ein Medium«, rutschte es ihm heraus.

Sie blickte an ihm vorbei zum Fenster und hob das Kinn ein wenig, wie um seine spitze Bemerkung an sich abgleiten zu lassen. Dann sah sie ihn aus ihren tiefliegenden, grünen Augen durchdringend an. »Mütter verlieren nie den Kontakt zu ihren Kindern«, sagte sie. »Egal, wie weit wir von ihnen entfernt sind – die innere Bindung bleibt immer. Auch dann, wenn sie von uns gehen.«

 

Sie glaubt das tatsächlich, Jan. Sie ist völlig mit sich im Reinen. Ich gönne es ihr. Das kann ich jetzt. Ich musste wohl erst sterben, um ihr verzeihen zu können, dass sie nie mich gesehen hat, sondern immer nur eine verklärte Kopie ihrer selbst. Wenn Egozentrik im Gewand der erleuchteten Liebe daherkommt, brauchen diejenigen, denen diese Liebe zuteilwird, manchmal ein ganzes Leben, um zu einem eigenständigen Ich zu finden. Die geschlagenen Wunden aber – die bleiben.

Ich hätte dir meine Mutter gern erspart, doch zum Glück hast du sie ja nie ernst genommen. Das war ein Segen für mich, denn so konnte ich endlich lernen, mich selbst ernst zu nehmen.

Ich fürchte, du wirst dich noch eine Zeitlang mit ihr arrangieren müssen, denn sie wird mich nicht so schnell loslassen.

Jetzt wo ich tot bin, wird sie glauben, mich spüren zu können, obwohl sie mich lebendig nie richtig kennengelernt hat. Lass sie einfach in dem Glauben. Es tut nicht mehr weh, Jan. Jetzt endlich tut es nicht mehr weh.

 

Wieder hatte Jan dieses seltsame Gefühl von Unwirklichkeit, mit dem der Tag begonnen hatte. Er schüttelte ganz leicht den Kopf, wie um dieses Gefühl loszuwerden, aber es half nicht. Auch Kayas Mutter war einer dieser Albträume, aus denen es kein Erwachen gab. »Ich geh die

Kinder wecken«, sagte er. »Falls du … ihr Grab ist … «

»Auf dem Dorffriedhof.« Elke lächelte nachsichtig. »Du sagtest es bereits.«

Auf der Treppe kam ihm Lina mit erschrockener Miene entgegen. »Papa, da ist ein nackter Mann im Bad!«

Offenbar wusste Chris nicht, wie man einen Schlüssel benutzte. »Das ist Chris. Elke ist da.« Jan rieb sich nervös die Stirn. »Sitzt in der Küche.«

Linas Augen leuchteten auf. »Echt jetzt? Ist ja krass.«

So schnell sie konnte, rannte sie die Treppe hinunter. Lina liebte ihre Großmutter. Sie war noch zu jung, um Verrücktheit von Verantwortungslosigkeit zu unterscheiden.

In Finns Zimmer roch es, wie es riechen musste, wenn ein Sechzehnjähriger bis spät in der Nacht am Computer gezockt hatte und danach, ohne zu lüften, ins Bett getorkelt war. Jan zog die Jalousie hoch und kippte das Fenster. »Och nee«, stöhnte Finn und zog die Bettdecke über den Kopf.

»Guten Morgen. Aufstehen. Es ist schon nach sieben. Ich fahr dich nicht wieder, wenn du den Bus verpasst.«

»Muss heute erst zur dritten Stunde in die Schule«, klang es dumpf durch die Decke.

»Aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken. Elke ist da.«

»Was?« Finn fuhr hoch und starrte ihn entgeistert an.

»In der Nacht gekommen. Campingbus steht im Hof, Elke ist in der Küche, ihr … « Jan überlegte, als was er Chris bezeichnen sollte. Lebensabend-Weggefährte war ein Konzept, mit dem Finn vermutlich wenig anfangen konnte. »Ihr neuer Typ ist im Bad. Noch Fragen?«

»O Mann. Die hat gerade noch gefehlt.« 

»Allerdings«, sagte Jan.

 

 

Jan versuchte, trotz der Störungen in seinem gewohnten Tagesablauf, zu arbeiten. Zu tun hatte er mehr als genug. Doch immer, wenn er aus dem Fenster auf den buntbemalten Bus blickte, stieg Wut in ihm auf. Was wollte Elke jetzt noch hier? Zu spät, hämmerte es in seinem Kopf. Es ist zu

spät!

Als er zum zweiten Mal eine Regalplatte verschnitt, warf er das Holzstück fluchend beiseite und ging zurück ins Haus.

Elke und Chris saßen am Küchentisch und schnippelten das Gemüse, das er tags zuvor eingekauft hatte.

»Fühlt euch ganz wie zu Hause«, sagte er.

Sarkasmus war Elke ebenso fremd wie der Gedanke, sie könnte an irgendeinem Ort der Welt nicht willkommen sein. »Keine Sorge, ich weiß ja, wo alles steht.«

Jan baute sich vor ihnen auf. »Ich kann euch keine Übernachtungsmöglichkeit anbieten.«

Elke sah von ihrem Gemüse auf. »Was ist mit dem Gästezimmer?«, fragte sie, eine Augenbraue leicht hochgezogen.

»Da schlafe ich.«

»Und warum schläfst du nicht in deinem Bett?«

»Ich schlafe im Gästezimmer. Punkt.«

Elkes Blick schien ihn zu durchdringen. Er öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Cola heraus, nur, um diesem Blick nicht länger ausgesetzt zu sein.

Sie verzog das Gesicht. Cola war Teufelszeug, genau wie Nutella. »Mach dir keinen Kopf«, sagte sie dann. »Wir schlafen im Bus.«

Er nickte erleichtert. »Okay, gut. Es gibt einen Campingplatz auf der anderen Seite vom Dorf. Vielleicht ist der noch offen.«

»Nein, nein«, erwiderte Elke. »Wir bleiben hier, bei euch.«

»Aber … Im Hof könnt ihr nicht stehen bleiben. Ich muss da mit dem Lieferwagen rangieren können.«

»Wir finden schon einen Platz. Kein Problem.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Du Armer, du wirkst schrecklich angespannt. Komm, setz dich einen Moment zu uns.«

»Ich muss arbeiten. Keine Zeit zum Sitzen.«

»Kleine Entspannungspausen wirken manchmal Wunder.«

Ihr Leben schien nur aus Pausen zu bestehen, so entspannt wie sie aussah.

»Wie lange wollt ihr bleiben?«, fragte er.

»So lange es sein muss.«

Jan runzelte die Stirn. »Muss? Wieso müssen? Also … wir kommen gut klar, wenn du das meinst. Die Kinder gehen in die Schule, ich arbeite und abends kochen wir. Samstags geh ich einkaufen und sonntags … « Er zuckte mit den Schultern. Sonntage waren wie Sperrholz. Hässlich, stumpf, überflüssig. Sonntage waren die dunklen Ecken in der Woche. »Es funktioniert.«

»Maschinen funktionieren«, sagte Elke. »Wenn Menschen funktionieren, leben sie nicht.«

Ein typischer Elke-Spruch. Genau deswegen hatte er sich vor ihrem Kommen gefürchtet. Sie hatte immer solche Weisheiten parat, die niemandem mit wirklichen Problemen halfen.

»Dann ist es ja gut, wenn du lebst. Ich muss funktionieren.« Und um keinen Zweifel an seiner Funktionstüchtigkeit zu lassen, trank er die Cola in einem Zug leer, knallte die Dose auf die Küchentheke und lief mit festem Schritt zurück in seine Werkstatt.

 

...

 

 

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