Sehnsuchtsräume

 

 

 

Ich bin ein Wasserwesen, Tochter des Schöpfergeists und der Sinnlichkeit, geboren vor urgrauer Zeit im unendlichen Ozean der Ideen.

 

Durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen wurde ich gleich nach meiner Geburt an Land gespült und musste lernen, in der harten Realität aus Stein und Erde zurechtzukommen. Zurzeit wohne ich im Körper einer Erdfrau. Bestimmt war ich schon in vielen anderen Erdwesen zu Gast, doch daran erinnere ich mich nicht.

 

Ich liebe das, was die Erdwesen „Bücher“ nennen. Für mich sind es Sehnsuchtsräume, gesponnen aus den feinen Fäden der Phantasie. Schon als kleines Erdenmädchen konnte ich stundenlang abtauchen in diese Räume. Hier war ich mal ein quirliges Mädchen mit roten Zöpfen und einem Affen und einem Schimmel als Haustier; mal ein Junge, der auf Drachen bis ans Ende der Welt reiten konnte. Mal war ich tapfer, mal schlau, mal frech, mal verwegen. In diesen Buchstabenwelten fand ich das, was mein Innen zum Klingen brachte und dem Außen die scharfen Kanten nahm.

 

Ich wurde älter und füllte mein Leben an mit „sinnvollen“ Tätigkeiten, deren Ergebnisse ich vorweisen konnte. Für meine Sehnsuchtsräume blieb immer weniger Zeit, dabei war doch die Welt zwischen den Buchdeckeln meine eigentliche, meine richtige Welt. Märchen, Abenteuer, romantische Helden, tapfere Heldinnen. Ich war süchtig nach ihnen! Sie alle erinnerten mich an etwas, dass ich verloren hatte, vor so langer Zeit.

 

Ich wäre kein Wasserwesen, wenn ich nicht immer wieder Wege finden würde, um fließen zu können. Dabei muss ich oft Umwege suchen, Nebenbäche, kleine Rinnsale, mich stark verzweigen. Ich probierte herum, studierte Sprachen, wurde Übersetzerin und begann, die Geschichten anderer Wasserwesen zu übersetzen – denn es gibt viele von uns. Es machte mir Freude und ich hätte vielleicht eine glückliche Übersetzer-Erdfrau werden können, wenn da nicht irgendwann dieser Traum gewesen wäre.

 

Ich war inzwischen Mama von zwei wundersüßen Erdkindern, verheiratet mit einem starken Erdmann und von früh bis spät mit sinnvollen Tätigkeiten ausgefüllt. Ich war auf einem guten Weg zu vergessen, dass in diesem Erdfrau-Körper ein Wesen aus dem Reich der Ideen steckt.

 

In meinem Traum stand ich auf einer hohen Klippe, unendlich weit entfernt vom wogenden Ozean. Plötzlich erhoben sich die Wassermassen und türmten sich auf zu einer gigantischen Welle. Ich wollte weglaufen, doch da war kein Boden mehr, über den ich hätte laufen können. Die Welle verschlang mich und trieb mich tief hinunter bis zum Grund des Meeres. Ich dachte ich müsste ertrinken und wollte aufwachen, doch ich stellte fest, dass ich atmen konnte, freier und tiefer, als ich an Land je hatte atmen können. Und dann sah ich sie alle: die vielen Millionen Geschichten, die im Ozean der Ideen geboren werden. Sie waren bunte Juwelen, schillernde Edelsteine, unfassbar schön und kostbar. Ich konnte sie aufnehmen und betrachten, jede einzelne. Sie sprachen zu mir in einer Sprache so klar, wie ich sie dort oben bei den Erdwesen nie gehört hatte. Wie gerne wäre ich dort unten geblieben, doch eine neue Welle packte mich und warf mich zurück an Land.

 

Als ich erwachte wurde mir klar, was meine Aufgabe war. Ich musste die Sprache finden für diese Kostbarkeiten, die dort unten liegen, tief unten in mir.

 

Ich machte mich also auf die Suche nach diesen Geschichten, nach meinen Geschichten.

 

Ich will sie beschreiben, diese Kostbarkeiten im Ozean der Ideen. Ich will Sehnsuchtsräume schaffen für Wesen wie mich. Darum bin ich hier! 

 

 

Und hier sind nun einige von Ihnen. Ich hoffe, sie gefallen Euch!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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 Veröffentlichung im SmartStorys Verlag, Österreich

 

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Experimenta Dezember 2016

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Flaschenpost

 

Erschienen 2015 in der März-Ausgabe der Experimenta

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