46, Gordon Square, März 1905
Heute also war es so weit. Die famosen Freunde ihres Bruders sollten zum ersten Mal am Gordon Square zusammenkommen. Virginia saß allein im Salon und las einen Roman von Henry James, den sie rezensieren sollte. Mittlerweile bekam sie regelmäßig solche Aufträge. Zuletzt hatte der Chefredakteur des Times Literary Supplement angefragt – und für Mrs Lyttletons Kirchenzeitungsbeilage rezensierte sie inzwischen regelmäßig. Zurzeit arbeitete sie an einer Besprechung dieses merkwürdigen Romans, Die goldene Schale von Henry James. Sie hatte ihn schon zweimal gelesen, verstand jedoch nicht, worauf das Ganze hinauslief. Es ging um Menschen und ihre Eheprobleme, soviel verstand sie wohl, aber gewiss ging es da noch um mehr, nur worum? Henry James war ein langjähriger Freund ihres Vaters, gehörte fast zur Familie, aber sie fand vor allem seine späteren Romane schwer verständlich, sie schienen ihr einfach nichts mit ihrer Welt zu tun zu haben. Vor allem war er ein hochgeachteter Schriftsteller, einer, der erreicht hatte, wovon sie in ihren verwegensten Stunden träumte. In den Salons der gebildeten Mittelschicht sprach man über ihn, selbst Kitty Maxse, ihre Freundin aus Kensington, die sonst eher selten las, kannte ihn. Unmöglich also, die Rezension abzulehnen. Noch schwieriger aber, etwas Kluges über diesen Roman zu schreiben - und klug musste es sein. Das verstand sich von selbst.
Sie sah auf die Uhr. Viertel vor neun. Sie hatten sich darauf geeinigt, um neun Uhr zu beginnen, nach dem Dinner und noch, bevor die Schläfrigkeit eintreten konnte. Vanessa fand natürlich, dass es für Virginia viel zu spät sei. Ihre Schwester konnte einfach nicht aufhören, sie wie ein kleines Kind zu behandeln.
Die Türglocke! Virginia registrierte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Alle anderen Symptome waren verschwunden, nur dieses dumme Herz musste immer noch durcheinandergeraten, wenn etwas Aufregendes passierte. Und aufregend war diese ganze Sache natürlich, auch wenn sie ihren Geschwistern gegenüber so getan hatte, als sei es für sie eine Selbstverständlichkeit, mit lauter hochintelligenten Männern in einem Raum zu sitzen und ihrem klugen Diskurs zu lauschen. Bestimmt würde sie sich blamieren, wenn sie etwas sagte. Doch sie konnte ja auch einfach schweigen und zuhören. Aber was, wenn jemand das Wort an sie richtete?
Sie hörte Schritte draußen auf der Treppe. Hastig strich sie ihren Rock glatt, öffnete wieder ihr Buch und gab vor, zu lesen. Ein kurzes Klopfen, und die Tür öffnete sich. Es war Clive Bell. Niemand sonst. Wo zum Henker war Vanessa?
„Einen schönen guten Abend“, rief Clive gutgelaunt. „Darf ich eintreten?“
Die Frage war vollkommen überflüssig, denn er stand schon mitten im Raum. „Sind Sie doch schon“, sagte Virginia. „Nehmen Sie Platz, Mr Bell.“
Bislang hatte er noch keinen Versuch unternommen, die höfliche Distanz zwischen ihnen zu verringern. Es sollte ihr recht sein, auch wenn es ärgerlich war, dass er diesen Unterschied im Umgang zwischen ihr und Vanessa machte.
Er ließ sich direkt ihr gegenüber im Sessel nieder. „Noch niemand da?“
Virginia hob nur die Brauen. Auf solch eine unintelligente Frage erwartete er ja wohl keine Antwort.
„Verzeihung, ich meine natürlich außer Ihnen.“
„Sehen Sie denn jemanden?“
Er lachte gutgelaunt. Immer war er guter Laune. Penetrant. Er zeigte auf ihr Buch. „Darf ich fragen, was Sie lesen?“
Gut. Das war ein unverfängliches Thema, auf das sie sich einlassen konnte. „Henry James“, sagte sie. „Kennen Sie ihn?“
„Persönlich nicht, nein. Ich habe das ein oder andere von ihm gelesen, aber ich werde nicht warm mit seiner Art zu schreiben.“
„Welche Art meinen Sie? Sein frühes Werk unterscheidet sich immerhin erheblich von diesem hier.“
„Ist das so?“, fragte Clive. „Dann sollte ich es vielleicht einmal damit probieren?“ Er streckte die Hand nach dem Buch aus, aber Virginia legte es neben sich auf dem Sofa ab.
„Es wird Ihnen nicht gefallen. Seitenweise Dialoge, reine Innenschau, keine Handlung.“
„Und Sie glauben, das ist nichts für mich?“, fragte Clive amüsiert.
„Es würde mich sehr wundern.“
„Was würden Sie mir also empfehlen?“
„Wie wäre es mit Die Schatzinsel von Stevenson?“ Sie sah ihn herausfordernd an. Irgendetwas an ihm reizte sie, so arrogant wie möglich aufzutreten. Vielleicht war es die eitle Art und Weise, wie er sich kleidete, vielleicht auch einfach die Selbstverständlichkeit, mit der er davon auszugehen schien, dass er jederzeit willkommen war.
„Interessanter Vorschlag. Allerdings etwas zu abenteuerlustig für meinen Geschmack.“
„Dann lesen Sie Thackeray. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten zum Beispiel.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Wir kommen der Sache näher. Aber immer noch nicht ganz das Richtige.“
„Was also lesen Sie dann? Oder lesen Sie gar nicht?“
Auch diese Provokation schien an ihm abzuperlen.
„Ich ziehe die französische Literatur vor. Eleganter, leichter, amüsanter. Kennen Sie Les Liaisons Dangereuses von Choderlos de Laclos? Man würde den Titel wohl mit Gefährliche Liebschaften übersetzen.“
Er wusste genau um ihre rudimentären Französischkenntnisse, und so kannte sie das Buch natürlich nicht, aber die Genugtuung, ihren Angriff pariert zu haben, würde sie ihm nicht geben. „Zurzeit beschäftige ich mich vor allem mit der griechischen Antike. Nicht leicht und amüsant, aber durchaus von einer gewissen Eleganz.“
„Dann sollten Sie sich mit unserem genialen Freund Sidney-Turner unterhalten. Saxon Sidney-Turner, kennen Sie ihn?“ Ohne Virginias Antwort abzuwarten, sprach er voller Eifer weiter: „Er ist absoluter Experte auf diesem Gebiet. Legen Sie ihm eine beliebige Textstelle vor, und er wird sie Ihnen aus dem Stegreif übersetzen.“
„Beeindruckend“, sagte Virginia und versuchte gar nicht erst, beeindruckt zu klingen.
Um Punkt neun ging die Türglocke erneut. Wo blieben bloß ihre Geschwister? Clive stand auf und blickte erwartungsvoll zur Tür. Wieder Schritte auf der Treppe, diesmal auch Stimmen. Herein kam Thoby mit einem dunkelhaarigen Mann mit Schnauzbart, kurz dahinter Adrian mit Lytton Strachey. Gegenseitiges Schulterklopfen, freudige Begrüßungen, Clives lautes, fröhliches Lachen und die leise, weiche Stimme des Unbekannten, die sich wie eine akustische Umarmung im Raum ausbreitete. Virginia beobachtete den Neuankömmling, dessen Blick kurz zu ihr herüberschweifte, aber durch nichts zu erkennen gab, dass er sie wahrgenommen hatte.
In diesem Augenblick kam Vanessa. Sie hatte die Haare ordentlich hochgesteckt und eines ihrer wallenden farbenfrohen Kleider angezogen. Natürlich sah sie aufsehenerregend aus. Virginia indes war überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, ihren grauen Alltagsrock gegen etwas Außergewöhnlicheres einzutauschen und die Haare … Hastig steckte sie ihre verrutschten Haarnadeln fest, während sie beobachtete, wie sich alle Männer ihrer Schwester zuwandten und Thoby sie seinen Freunden vorstellte. Clive ergriff wie üblich ihre Hand und verneigte sich so tief, als stünde eine Renaissancekönigin vor ihm.
Vanessa lächelte auf ihre unergründliche Mona-Lisa-Weise und schritt ohne jede Unsicherheit quer durch den Raum auf Virginia zu, um sich auf dem Sofa neben ihr niederzulassen.
„Wo warst du so lange? Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, zischte Virginia.
„Ich musste mich um die Getränke kümmern.“
„Und? Was bietest du an? Wein? Whisky?“
„Keinen Alkohol heute, hat Thoby gesagt. Jetzt gibt es Kakao und Sandwiches.“
„Kakao? Ist das dein Ernst?“
Vanessa zuckte ratlos die Achseln. „Er sagt, Strachey liebt Kakao, also trinken sie ihn alle.“
Lytton Strachey hatte sich im Korbstuhl am Fenster niedergelassen und nickte jetzt zu Virginia herüber. Thoby hockte vor ihm, Clive stand daneben. Sie redeten leise miteinander. Keine formelle Begrüßung, kein höflicher Smalltalk. Der große Salon bot viel Raum für Unverbindlichkeit. Adrian setzte sich zusammen mit dem schnauzbärtigen Unbekannten in die beiden Sessel direkt vor dem Kamin.
„Wer ist der Dunkelhaarige?“, fragte Virginia ihre Schwester leise.
„Keynes heißt er. John Maynard Keynes. Ich glaube, er und Adrian …“ Vanessa kreuzte ihre Zeigefinger und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue.
„Du meinst …?“
Vanessa nickte. Virginia beobachtete die beiden Männer, die die Köpfe eng zusammengesteckt hatten und etwas sehr Ernsthaftes zu besprechen schienen. Genauer gesagt, sprach ihr Bruder, und Keynes lauschte mit seitlich geneigtem Kopf, ganz so, als gebe es in diesem Augenblick nichts und niemanden auf der ganzen Welt, der interessanter sein könnte als Adrian. Der schweigsame, mürrische Adrian, das war doch nicht zu glauben! Noch nie hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was ihr Bruder eigentlich für ein Mensch war, außer eben der kleine Bruder und Liebling ihrer Mutter. Sie hatte sich nie besonders gut mit ihm verstanden, hatte immer mehr die Nähe Vanessas und Thobys gesucht. Was Adrian außerhalb der Familie tat, wen er traf und was er mochte, wusste sie nicht.
„Und warum glaubst du, dass die beiden …?“ Wie sollte sie es ausdrücken? Welches Wort passte, wenn es ihren eigenen Bruder betraf? Wie sah sie überhaupt aus, eine solche Beziehung zwischen Männern, wenn sie sich nicht auf gemeinsames Jagen, Tennisspielen oder Diskutieren beschränkte? Dieser Maynard Keynes war kein schöner Mensch, wie es Thoby war. Er war deutlich kleiner und gedrungener als Adrian, hatte dunkle, unruhige Augen und eine leicht aufwärts gerichtete Nase. Das Äußere gäbe wohl zunächst keinen Anlass, ihn zu lieben, was auch immer das bedeuten mochte. Auch Liebe war eines von diesen Worten, das sich wie ein Chamäleon gebärdete, je länger Virginia darüber nachdachte, was das Wesen des Phänomens, die Idee von Liebe, sein mochte. Sie wusste, dass es bei Platon eine Menge zu diesem Thema zu lesen gab, aber noch war sie des Griechischen nicht mächtig genug, um seine Philosophie der Liebe bis in alle Einzelheiten zu verstehen. Daran musste sie arbeiten, denn sie wollte den großen Philosophen unbedingt im Original lesen.
Sie blickte wieder zu Lytton Strachey hinüber, der vorgebeugt in seinem Korbsessel saß, den linken Arm lässig über ein Bein gelegt, den rechten Ellbogen auf dem Knie und das Kinn in der Hand abgestützt. Er war so spindeldürr, dass er schon fast krank aussah. Sein Blick hing an Thobys Lippen, der noch immer vor ihm hockte, wie ein Schüler zu Füßen seines Lehrers. Clive hatte sich einen Stuhl herangezogen, und Thoby redete lebhaft auf ihn ein, während er unablässig von Strachey beobachtet wurde, dieser stets mit einem Lächeln auf den Lippen.
Ob auch zwischen Thoby und Strachey …? Nein, das war ausgeschlossen. Ihr Bruder erzählte ihr zwar nie etwas von seinen Damenbekanntschaften, aber Vanessa war ein paarmal mit ihm aus gewesen und hatte die eine oder andere Dame seines Herzens kennengelernt. Allerdings wechselten diese in sehr rascher Folge, so dass für Virginia nicht eindeutig geklärt war, auf welche Art und Weise Thoby seine Freunde liebte. Dass er sie liebte war keine Frage. Und dass zumindest Strachey und Clive ihn liebten, schien auch klar. Oft hatte sie schon gesehen, wie Clive ihren Bruder umarmte. Und jetzt gerade legte Strachey seine lange, schmale Hand auf den Arm ihres Bruders, eine kurze Geste, fast liebkosend. Berührungen dieser Art waren ein Zeichen von Liebe, soviel hatte Virginia begriffen. Und Frauen berührten einander oft. Bei Männern hatte sie es selten gesehen, höchstens ein deftiges Schulterklopfen, anders als bei Strachey eben. Sie sah wieder zu Keynes und Adrian hinüber, die unverändert eng beisammen saßen, einander jedoch nicht berührten.
„Das glaube ich nicht“, sagte sie, allerdings so laut, dass Keynes es gehört haben musste und zu ihr herübersah. Schnell senkte Virginia den Blick und ärgerte sich im selben Moment über ihre Verlegenheit. Immerhin war es ihr Haus, ihr Salon. Es wäre Thobys Aufgabe gewesen, sie miteinander bekannt zu machen. Bei jedem gesellschaftlichen Anlass, dem sie bisher beigewohnt hatte, waren Neuankömmlinge stets angekündigt und zuallererst den Damen des Hauses vorgestellt worden. Nun saß sie hier wie ein vergessener Hund im Halbdunkel und wartete darauf, dass der Abend vorüberginge. Vanessa neben ihr rauchte und schien es gelassen hinzunehmen, dass sie von den Männern nicht beachtet wurden. Virginia griff wieder nach ihrem Buch, um wenigstens ihren Händen Halt zu geben.
In diesem Augenblick ging erneut die Türglocke. Die Magd war bereits für den Abend entlassen worden, weshalb Thoby öffnen ging. Auch in die anderen Männer kam Bewegung. Keynes und Adrian standen auf und traten zu Strachey, während Clive zu ihnen herüberkam.
„So still, die Damen?“, fragte er.
„Wir möchten die Herren nicht in ihrer Wiedersehensfreude stören“, entgegnete Virginia spitz.
„Und Thoby, der Flegel, hat seine Umgangsformen vergessen. Kann es sein, dass er Sie mit Maynard gar nicht bekannt gemacht hat?“ In seinen Augen blitzte es spöttisch.
Virginia ignorierte seine Frage und sagte stattdessen zu Vanessa: „Glaubst du, Mr Bell wird der Kakao zusagen, den du vorgesehen hast? Mir scheint, er könne das für unter seiner Würde erachten.“ Vanessa sah Clive an und hob leicht die Schulter, als müsse sie sich für ihre Schwester entschuldigen.
„Ah“, sagte Clive nun. „Da kommt Saxon!“
Hinter Thoby kam ein kleiner, blasser Mann hereingeschlurft, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die schmalen Schultern hochgezogen. Er schien die Aufmerksamkeit zu fürchten, die ihm durch sein verspätetes Eintreffen zuteil wurde, und nickte kurz in alle Richtungen, ohne jedoch den Blick auf einen der Anwesenden zu fokussieren. Er erinnerte an eine Maus, die sich zu weit aus ihrem Loch gewagt hatte und nun verzweifelt nach Deckung suchte. Das also war der geniale Saxon Sidney-Turner, von dem Clive gesprochen hatte.
Thoby machte Anstalten, mit Sidney-Turner direkt auf Strachey, Adrian und Keynes zuzusteuern, doch Clive rief: „Thoby, willst du die Herren gar nicht mit deinen Schwestern bekannt machen?“
„O Clive“, stöhnte Vanessa. „Das war jetzt wirklich nicht nötig!“
Thoby stutzte, als wäre ihm die Tatsache ihrer Anwesenheit völlig entfallen. „Natürlich! Saxon, Maynard? Meine Schwestern. Vanessa und Virginia.“ Er machte eine unbestimmte Handbewegung in ihre Richtung, als wäre es gänzlich unbedeutend, wer von ihnen wer war. Dann legte er kurz dem blassen Sidney-Turner die Hand auf die Schulter: „Das hier ist Saxon Sidney Turner, und da drüben, der Herr mit dem Schnauzer, ist Mr Maynard Keynes.“ Sidney-Turner zog die Schultern noch ein wenig höher und nickte kurz zu ihnen herüber. Keynes hob die Hand und lächelte. Immerhin.
Clive beugte sich zu ihnen und flüsterte: „Euer Bruder hat tatsächlich überhaupt keine Umgangsformen.“
„Manchen fehlen die Umgangsformen, anderen die Diskretion“, sagte Virginia. Vanessa kicherte.
Ein erneutes Läuten der Türglocke ließ sie auseinanderfahren. „Da kommt dann wohl Desmond“, sagte Clive. „Immer der Letzte. Wenn Lytton es nicht ist.“ Er richtete sich auf und rief Thoby zu: „Bleib! Ich gehe öffnen.“
Virginia sah Vanessa erstaunt an. „Habe ich etwas verpasst? Ist er jetzt hier der Hausherr?“
„Auf jeden Fall fühlt er sich wie zu Hause.“
„Und wem haben wir das zu verdanken?“
Vanessa lächelte versonnen, eine Antwort blieb sie ihr jedoch schuldig.
Der letzte Gast, Desmond McCarthy, war ebenso unauffällig und blasshäutig wie Saxon Sidney-Turner, dafür stellte er sich ihnen selbst höflich und formvollendet vor, bevor er sich zu seinen Freunden gesellte, die sich in lockeren Zweier- oder Dreierpaarungen in den Sesseln im Raum verteilten, leise miteinander sprachen und nur manchmal verhalten lachten, als fürchteten sie, irgendeine heilige Ordnung zu stören, wenn sie lauter würden. Inzwischen hatte Sophie ein großes Tablett Sandwiches und Kakao serviert, das auf dem Sideboard abgestellt wurde, wo die Männer sich hin und wieder selbst bedienten. Es gab weder Servietten noch Besteck, aber das schien ihnen nichts auszumachen. Virginia blieb, wie auch Vanessa, den ganzen Abend auf dem Sofa sitzen und beobachtete das merkwürdige Geschehen, ohne ein einziges Wort mit einem der Männer zu wechseln – außer natürlich mit Clive Bell, der immer mal wieder zu ihnen herübergeschlendert kam und ihnen ein paar Bemerkungen über den einen oder anderen der Anwesenden zuflüsterte. So erfuhren sie, dass Sidney-Turner nicht nur aus dem Stegreif und ohne jedes Hilfsmittel Altgriechisch übersetzen konnte, sondern auch lateinische Gedichte schrieb und im Geheimen an einem revolutionären Werk über die italienische Oper arbeitete. Die Vollendung stehe kurz bevor, behauptete Clive.
„Und woher wissen Sie das, wenn er es heimlich tut?“, fragte Vanessa.
„Er weiß doch alles“, versetzte Virginia.
„So ist es“, sagte Clive und zwinkerte ihr zu.
Es wurde immer später, und keiner der Männer machte Anstalten zu gehen. Zwischendurch saßen sie bisweilen einfach nur schweigend da und blickten sinnierend vor sich hin, wie auf der Suche nach dem nächsten klugen Satz, den sie von sich geben könnten. Virginia wurden die Lider schwer, aber aufzustehen und vor aller Augen den Weg ins Bett anzutreten, stand außer Frage. Von Zeit zu Zeit schnappte sie ein paar Gesprächsfetzen auf, Namen, die sie nicht kannte, oder auch ein lateinisches oder griechisches Zitat, das sie sehr wohl kannte. Einmal, als ihr Bruder Aischylos falsch wiedergab, murmelte sie das korrekte Zitat vor sich hin, doch keiner der Männer nahm Notiz von ihr. Nur Vanessa kuschelte sich an sie und sagte leise: „Die geballte Cambridge-Elite bei uns auf dem Sofa, und keiner von ihnen kann es mit dir aufnehmen.“
„Sie langweilen mich“, flüsterte Virginia. „Woran liegt es, dass Männer so viel uninteressanter sind als Frauen?“
„An dir“, sagte Vanessa. „Ich bin da anderer Ansicht.“
In diesem Augenblick übertönte Lytton Stracheys Falsett auf einmal das Gemurmel und ließ die übrigen Männer verstummen. „Hey Saxe, willst du uns nicht beim nächsten Mal etwas über die italienische Oper erzählen?“
Der blasse Sidney-Turner sank tief in den großen Sessel, in den er sich nach seiner Ankunft geflüchtet hatte, um den Gesprächen seiner Freunde zu lauschen und nur wenige kaum hörbare Worte von sich zu geben, die er mit sparsamen Gesten seiner merkwürdig kleinen Hände untermalte. Auch jetzt sprach er so leise, dass selbst das Ticken der Wanduhr ihn beinah übertönte. „Aber das ist doch ein viel zu weites Feld. Können wir es nicht eingrenzen auf ein klar umrissenes Thema?“
„Wie wäre es mit der Liebe? Liebesarien in der italienischen Oper“, schlug Clive vor, und obwohl er nicht zu ihnen herübersah, hätte Virginia ihre gesamte Bibliothek darauf verwettet, dass sein Kommentar in erster Linie für Vanessa bestimmt war.
„Ausgerechnet Liebe“, rief Strachey. „Bitte nicht! Liebe ist doch nur als Idee reizvoll. Im wahren Leben reißt sie uns in den Abgrund.“ Er hockte noch immer in seinem Korbstuhl, mit dem er verwachsen schien wie eine Schildkröte mit ihrem Panzer. „Schon der alte Sophokles hat sich aus Verzweiflung über eine unerwiderte Liebe von einem Felsen gestürzt“, behauptete er.
Virginia richtete sich kerzengerade auf und wartete darauf, dass jemand Einspruch erheben würde. Doch die Männer saßen nur schweigend da, und Adrian nickte kummervoll, als hätte Strachey ihm soeben sein eigenes Schicksal vorgezeichnet.
„Das war Sappho“, sagte sie erst leise, dann – als niemand reagierte - noch einmal lauter. „Sappho war das. Sophoklos ist an einer Weinbeere erstickt. Er war über neunzig – deutlich zu alt, um sich aus Liebeskummer in den Tod zu stürzen.“
Nun fing sie Thobys Blick auf, der ihr aufmunternd zunickte. „Ich glaube allerdings nicht, dass es wirklich stimmt“, fuhr sie mutiger fort. „Es passt gar nicht zu Sappho, sich ausgerechnet aus Liebe zu einem Jüngling in den Tod zu stürzen. Wahrscheinlich hat Ovid die Geschichte nur erfunden.“
„Sieh an“, sagte Strachey und schob seine Nickelbrille höher. „Sappho also. Und mir gefiel der Gedanke, dass der alte Sophokles … Nun ja. Ob nun Wein oder Liebe - beides Torheiten.“
„Aber Liebe ist doch keine Torheit“, protestierte Clive.
Strachey lächelte nachsichtig. „Unerwiderte Liebe schon. Die Literatur ist voll davon – und den tragischen Folgen.“
Clive winkte ab. „Nicht alles steht geschrieben. Manche Dinge müssen gelebt werden.“
„Damit hast du ausnahmsweise recht“, sagte Strachey, und die übrigen Männer nickten in stummer Ehrfurcht über die bedeutungsvolle Erkenntnis, zu der sie zu dieser vorgerückten Stunde gelangt waren.