Ein lautes Rauschen weckt mich. Verfluchter Radiowecker! Ich versuche, nach dem dünnen Antennenkabel zu greifen, um es neu auszurichten, aber irgendetwas hält meine Hand fest. Überhaupt liege ich komisch, ganz untypische Schlafposition. Auf dem Rücken, mit beiden Händen zwischen Hintern und Matratze festgeklemmt. Wieso ist die plötzlich so hart? Alles schmerzt, vor allem der Kopf.
Wieder versuche ich, die Hände unter dem Rücken hervor zu zerren, um mir den schmerzenden Schädel zu massieren. Es geht nicht. Dafür wackelt und schaukelt mein Bett hin und her. Mir ist übel. Fühlt sich so ein Kater an? Seit wann trinke ich Alkohol?
Ich schlage die Augen auf. Vor mir steht ein Maschinengewehr. Absurd. Ich schließe die Augen wieder und probiere es noch einmal. Das Gewehr steht immer noch da. Nein, es steht nicht wirklich. Es hängt an einer Wand, festgezurrt mit schwarzen Gurten.
Ich sehe an mir hinunter. Ich trage meinen weißen Bademantel. Meine Bettdecke ist nirgends zu sehen. Jetzt verstehe ich auch, warum ich nicht hin- und her rolle, obwohl meine Unterlage heftig schaukelt. Ich bin an Beinen und Oberkörper festgeschnallt, mit ebensolchen Gurten wie das Gewehr.
In diesem Moment gibt es einen heftigen Ruck und das laute Rauschen verstummt. Es war gar kein Rauschen, wird mir jetzt bewusst. Eher ein Knattern oder Brummen. Motorengeräusche! schießt es mir durch den Kopf. Mit diesem ersten klaren Gedanken macht mein Herz einen Satz und beginnt zu rasen. Wie komme ich von diesen schwarzen Dingern los? Wo bin ich? Ich muss hier raus!
Atmen. Einfach nur tief ein und wieder ausatmen. Nach einer Weile geht es besser. Okay. Bestandserhebung: Ich liege gefesselt im Bademantel in einem Auto.
Ich werfe einen weiteren vorsichtigen Blick auf die Gurte, die mich auf dem kalten, harten Untergrund festhalten.
Es muss ein Transporter sein. Meine einzige Gesellschaft ist das Maschinengewehr.
Es ist dunkel, nur durch ein paar Ritze in den Seitenwänden fällt Licht in mein Gefängnis.
Mir bleibt keine Zeit, um Mutmaßungen darüber anzustellen, wie ich in diese missliche Lage geraten bin. In diesem Moment wird die Hecktür des Transporters aufgerissen und strahlend helles Tageslicht blendet mich. Jemand steigt zu mir in den Wagen. Ich blinzle. Zu meinen Füßen erhebt sich ein gigantischer Schatten.
„Verdammt, was machen wir jetzt mit der da?“
„Abknallen!“
Das sind zwei! Der andere muss irgendwo draußen stehen.
„Jetzt sofort?“
„Lass die für später. Erst müssen wir uns um die andere Schlampe kümmern.“
„Wie du meinst“, knurrt der Hüne und macht sich daran, das Maschinengewehr aus der Halterung zu lösen.
Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Die schmierigen schwarzen Haare, die steile Zornesfalte zwischen den buschigen Brauen, das vorstehende, unrasierte Kinn, die Narbe rechts neben der schiefen Nase.
Ich kenne ihn sogar ganz genau! Wie auch den Lieferwagen und den Typen da draußen. Ja – ich weiß sogar, was der Kerl mit dem Maschinengewehr vorhat.
Ich bin mitten in dem beschissenen Weihnachtskrimi gelandet, der zuhause auf meinem Schreibtisch liegt und übersetzt werden will!
Diese Dumpfbacke vor mir, dieses eindimensionale Klischee eines skrupellosen Auftragskillers, ich habe es selbst beschrieben, mit meinen eigenen Worten.
„Was treibst du so lange, komm endlich!“ In der Tür des Lieferwagens erscheint der andere Kerl. Auch er lächerlich finster und böse, der typische Schurke aus einem billigen Krimi.
„Soll ich die nicht schnell noch erledigen?“
„Keine Zeit mehr jetzt. Komm!“
„Zumindest kannst du uns jetzt nicht mehr ins Handwerk pfuschen, Süße.“ Der Hüne beugt sich über mich und grinst mich an. Ihm fehlt – natürlich – der rechte Schneidezahn.
„Ich weiß, was ihr vorhabt“, schleudere ich ihm entgegen.
„Klar weißt du das.“
„Was wollt ihr dann von mir?“
„Dir das Handwerk legen. Lass die Finger von dieser Geschichte! Halt dich raus!“
„Oh, nichts lieber als das, aber…“
„Wenn du einfach deinen Job gemacht hättest, wär dir nix passiert.“
„Das hier ist eine scheiß Geschichte! So was will doch keiner lesen!“
Der Bösewicht spuckt mir ins Gesicht. Dann springt er aus dem Wagen und die Tür knallt zu.
Widerlich! Wie bekomme ich diese ekelhafte Spucke aus dem Gesicht? Verzweifelt zerre ich an den Fesseln, die meine Handgelenke umschnüren.
Ich weiß genau, was da draußen jetzt passieren wird. Die beiden Gangster erschießen an einem friedvollen Weihnachtsmorgen die erste weibliche Präsidentin der Vereinigten Staaten, kehren mit zwei Geiseln im Schlepptau zum Lieferwagen zurück und rasen durch New York, verfolgt von hunderten Einsatzwagen des NYPD. Am Ende explodiert der Lieferwagen, mitsamt Entführern und Geiseln. Der Rest der grauenvollen Story wird sich mit der Suche nach den Hintermännern des Attentats endlos hinziehen.
Mit jeder Seite, die ich bisher übersetzt habe, steigerte sich meine Wut gegen den mies gestrickten Plot, die schablonenhaften Figuren und mein leidvolles Sklavendasein im Dienste drittklassiger, amerikanischer Autoren. Nach den ersten zwanzig Seiten ritt mich der Teufel. Gewissenlos fing ich an, zu streichen, hinzuzufügen, zu glätten, umzuschreiben. Heute Morgen unter der Dusche kam mir dann die verwegene Idee, die beiden platten Ganoven ganz aus der Geschichte zu streichen und eine schillernde Täterpersönlichkeit mit einer bipolaren Störung an ihre Stelle treten zu lassen.
Tja. Das habe ich nun davon.
Ich überlege. Vielleicht könnte ich den beiden Gangstern einen Deal vorschlagen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Tür des Transporters wieder aufgerissen. Die beiden Geiseln werden hereingestoßen. Ich muss jetzt handeln, sofort.
„Hey, hört mal, wenn ihr mich wieder an meinen Schreibtisch lasst, verschaffe ich euch eine Millionenauflage!“
„Keine Zeit!“, knurrt der Wortführer der beiden.
„Doch, Zeit ist nicht das Problem! Ihr lasst mich laufen und ich sorge dafür, dass das hier eure Story wird. Bis jetzt seid ihr ja nur kleine Fische. Nach den ersten 20 Seiten spielt ihr überhaupt keine Rolle mehr in dieser Geschichte!“
Die beiden wechseln einen verunsicherten Blick.
„Und – was schlägst du vor?“
„Ihr kriegt einen richtig großen Auftritt. Ich mach euch berühmt!“
Der Bärtige kratzt sich am Hinterkopf.
„Wer sagt, dass wir dir vertrauen können.“
„Niemand. Aber ich bin die Einzige, die euch diese Chance bieten kann.“
„Und wenn du uns anlügst?“
„Dann könnt ihr mich immer noch erledigen.“
Der Hüne mit der schiefen Nase entblößt seine Zahnlücke. „Stimmt. Können wir dann immer noch. Ist doch `ne gute Idee, oder?“
Der andere betrachtet mich abschätzend. „Okay“, sagt er dann und spuckt in den Dreck.
Die beiden Geiseln schauen verständnislos von einem zum anderen.
In diesem Moment ertönt Sirenengeheul im Hintergrund. Jetzt wird es eng. Wenn die Verfolgungsjagd erst einmal beginnt, bin ich verloren.
„Entscheidet euch! Tot nütze ich euch nichts mehr.“
„Dann los“, knurrt der Wortführer und gibt seinem schiefnasigen Kompagnon einen Stoß. „Wirf‘ sie raus!“
Der löst die Transportgurte und Fesseln an meinen Händen und packt mich mit seinen groben Pranken. Ich erhasche noch einen letzten Blick auf die ratlosen Mienen der beiden Geiseln, bevor ich durch die Transportertür hinaus in die Helligkeit geschleudert werde.
Stöhnend betaste ich eine Riesenbeule an meinem Hinterkopf. Ich liege mit dem Gesicht halb auf der Tastatur meines Laptops. Auf dem Bildschirm blinkt der Cursor am Ende einer endlosen Reihe von Üs, Ös und Äs.
Ich scrolle den Bildschirm nach oben. Es ist nur eine Seite. Wo ist der Rest? Der Dokumentname stimmt: Garantierter Flop. Aber wo ist meine Übersetzung?
Hektisch durchsuche ich alle Ordner auf Festplatte und Speichermedien, auf denen ich Sicherungskopien hinterlassen habe. Nichts.
Neben meinem Laptop liegt nur noch der abgegriffene Originaltext.
Ein Sonnenstrahl stiehlt sich durch die halbgeschlossenen Jalousien meines Fensters und berührt meine geknechtete Übersetzerseele. Ich atme tief durch.
Entschlossen greife ich nach dem Original, reiße es in Stücke und werfe es in den Papierkorb.
Dann setze ich mich auf meinem Schreibtischstuhl zurecht, öffne ein neues Dokument und lege los.
Der Weihnachtskrimi kann mich mal. Ich schreibe jetzt meine eigenen Geschichten!